Lieblingsfilm: Moderato Cantabile

Von  //  8. November 2011  //  Tagged: ,  //  6 Kommentare

Der kleine Sohn des Fabrikbesitzers in einer französischen Provinzstadt muss eine Woche lang jeden Tag zum Klavierunterricht, seine Mutter kommt mit und guckt unterwegs verstohlen fremde Männer an. Der Junge hat Lernschwierigkeiten. Er kann und will sich nicht merken, was moderato cantabile heißt. Aber auch seine Mutter kann das nicht.

Moderato Cantabile ist eine Interpretationsanweisung für Musiker auf Notenblättern: „maßvoll, so dass man es singen kann“. Es ist die Lebensweise, zu der Frau und Kind sich zwingen sollen, zu der die Lehrerin den Kleinen abrichtet anhand des Musikunterrichts („Er hat keine Wahl. Das nennt man Erziehung“). Marguerite Duras, die die Romanvorlage hierzu geschrieben hat, fand den Filmrhythmus, der sich an das titelgebende Zeitmaß hält, zu „tröpfelnd“. Peter Brook, der Regisseur, habe sie falsch verstanden. Und sie ihn? Vielleicht tickten nur ihre Metronome abweichend; vielleicht war für Marguerite Duras auch zu viel erzwungenes Maß und zu wenig Rebellion in diesem bewusst qualvoll verhaltenen Film.

Die Geschichte spielt in einer hermetischen, nie wirklich hellen, oft gleichmäßig grauen Schicht zwischen der spätwinterlichen Erde und den dichten Wolken. Dort ist alles erdnah, mit der antiken Art von Staub auf den fleckigen Fenstern alter Häuser, dem dichten Flair intensiver Abnutzug und einem radiergummiweichen, bleistiftgrauen Dämmerlicht. Zäune, Wege und die langen Reihen der Häuser und Bäume fließen durch das Bild wie Züge, wie Tastaturen und die Gironde.

Dieser Film weiß peinlich genau, wie man sich verhält, wenn man einem Mann verstohlen und getrieben nachsteigt und aus Scham so tut, als wäre man nicht wegen ihm in dieses Arbeiterbistro gegangen und bliebe nur deshalb so auffällig lange dort, weil man „Durst hat“. Anne (Jeanne Moreau) ist wegen des Arbeiters Chauvin (Jean Paul Belmondo) im Bistro „La Gironde“. Sie hat zuvor, am Nachmittag, aus diesem Bistro den letzten Schmerzensschrei einer Frau heulen gehört, die von ihrem Geliebten ermordet wurde. Anne und Chauvin waren unter den Neugierigen, die sich vor dem Tatort drängelten, als die Polizei kam und den Täter mitnahm. Nun nehmen sie diesen Mord zum Vorwand, um mit einander möglichst unverdächtig ins Gespräch zu kommen. Sie spielen ihre Neugier auf Details der Tat künstlich hoch, um den anderen nicht gehen zu lassen und werden sich in den nächsten Tagen unausgesprochen immer mehr mit diesem fremden Liebespaar identifizieren. Anne sagt, gezielt beiläufig, wann und wo sie immer spazieren geht, und Chauvin versteht, dass sie das macht, um ihm wieder zu begegnen. Es ist von Anfang an klar, dass es die beiden erwischt hat, sie gesteht es ihm auch bald wie ein Kind einfach ein. Ihre Schritte sind vorgezeichnet, aber sie ignorieren die gegebenen Trittmuster und gehen es anders an, zögernd, voller Spannung. Sie wissen nicht, was tun mit dieser Liebe. Es sieht schön aus, wenn sie langsam neben einander spazieren, sehr paarungsbereit, diszipliniert, ein bisschen wie Verliebte in einem Ozu-Film. Oft unter den Alleebäumen, die so schief sind, weil hier so viel Wind ist, und auch mal im Wald, in einem verfallenen Haus, wo Kinder um sie herum spielen. Sie erzählen einander vertraut mehrdeutige Geschichten, reden ungewöhnlich und ehrlich. Sie gesteht, dass sie jemand zu sein glaubt, der nur für kurze Zeit einen Mann liebt und dann den nächsten sucht. Doch die Offenheit, dieses vorsichtige, von einander besessene miteinander Tanzen, verschwindet, als Chauvin beginnt, zu leiden und sie nicht mehr sehen will.

Nicht nur Jeanne Moreau, sondern auch Belmondo ist toll in diesem Film. Noch nicht so profiliert und fest gefügt als Typ wie später, die eigene Verliebtheit wie ein Naturereignis demütig hinnehmend. Moreau: der unerklärliche, tiefe Schmerz in Person. Als Chauvin sie nicht mehr sehen will und fortgeht, ohne wenigstens einmal mit ihr geschlafen zu haben, gleitet sie an der Theke des verlassenen Bistros zu Boden, krampft sich zusammen und schreit wie die Ermordete, durch die sie sich kennen gelernt haben. Als ihr Mann sie dort abholen kommt, packt er gleichsam ihre sterblichen Überreste in sein Auto.

Italien/Frankreich 1960, Regie: Peter Brook

P.S.: Danke an Sano, der mich auf den Film aufmerksam gemacht hat. Hier seine Besprechung bei den „Eskalierenden Träumen“.

Aus dem Fenster der Musiklehrerin sieht man die Flussmündung der Gironde und die breite, helle Uferpromenade, mit dunklen, perfekt verstreuten Figuren: den Arbeitern aus besagter Fabrik, mit ihren Fahrrädern, altes Proletariat.


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Über den Autor

Silvia Szymanski, geb. 1958 in Merkstein, war Sängerin/Songwriterin der Band "The Me-Janes" und veröffentlichte 1997 ihren Debutroman "Chemische Reinigung". Weitere Romane, Storys und Artikel folgten.

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6 Kommentare zu "Lieblingsfilm: Moderato Cantabile"

  1. wherrm 15. März 2014 um 17:36 Uhr · Antworten

    Der beiläufige Satz von Chauvin:“Alle Geschehnisse fangen ganz alltäglich an.“ Setzte sich bei mir fort:“…und bleiben es nicht, sondern eskalieren über Spannung, Höhepunkt(Orgasmus) und Entspannung bis zum nächsten.“ – So ging es für mich beim Zuschauen um den Ausweg aus diesem ewigen Zyklus von Selbsterhaltung und Arterhaltung, der eigentlichen Ursache allen Leidens und aller Katastrophen. Zugegeben, es ist meine Interpretation, die wenig Spaß verbreitet und letztlich im Nirvana endet. Außer dieser tieferen Sinngebung ist der Rest in dem Film nur eine Variante des üblichen Beiwerks in dem, was mit uns geschieht.

  2. Silvia Szymanski 15. November 2011 um 14:57 Uhr · Antworten

    Ja, die Kamera ist wirklich wichtig und sehr großartig; es war ein aufschlussreicher, ästhetischer Genuss, die Screenshots auszusuchen. Brook ist verdammt gut.
    „Er lebt in der Gegenwart und sucht die Zukunft. Sie lebt in der Vergangenheit und sucht die Gegenwart.“: Da liegt der Unterschied zwischen den beiden, das stimmt. Mir scheint wie dir, er glaubt an eine Zukunft mit ihr, während sie sich sicher ist, dass sie ihre Liebe zu ihm nicht in der Zukunft leben kann. Deshalb will sie die Gegenwart ausdehnen wie es nur geht. Indem sie immer wieder dasselbe macht, immer wieder das Café umschleichen, immer wieder sich in die Gefahr begeben, von ihm geliebt zu werden. Vielleicht hast du Recht, und der Mord ist mehr als nur ein Vorwand, um sich näher zu kommen. Ich habe diesem Element vielleicht zu wenig Beachtung geschenkt, weil ich es nicht spontan verstanden habe. Möglicherweise möchte sie, in ihrer Phantasie, von ihm getötet werden, weil das so innig, intensiv und sexuell wäre. Und damit das alles aufhört – das mit ihr, die Qual. Ihr Zusammenbruch am Ende käme dann von der Erkenntnis, dass sie unerlöst, so wie sie ist, weiter leben muss.

    • Sano 16. November 2011 um 19:23 Uhr ·

      Schön kompakt zusammengefasst. Ungefähr so sehe ich das – was bei meinem niedergeschriebenen Gedankenwirrwar aber sicher nicht immer sofort zu entschlüsseln ist. ;-)

      Diese Qual am Ende – weiterleben zu müssen. Furchtbar.

      Da kann man aber natürlich viel ruminterpretieren. Mal schauen wie sich das bei wiederholtem Sehen entwickelt.

  3. Sano 15. November 2011 um 10:24 Uhr · Antworten

    Ich denke schon, das durch diesen Mord Sehnsüchte geweckt wurden, die sich dann bei den beiden in einer Art Rollenspiel hauptsächlich durch Projektionen ausdrücken. Natürlich ist jedes Verliebtsein zum Teil sicher auch Projektion. Muss aber jeder für sich entscheiden, wie er das sieht. Ich bin momentan (bis ich denn Film noch einmal gesehen habe) der Meinung, dass Er sich in sie eventuell verliebt hat, sie sich in ihn aber nicht. Daher auch seine Enttäuschung und die Tatsache das er sie verlässt, nachdem er seine Projektion durchschaut. Sie ist ihm glaube ich von Anfang an voraus, da es ihr um etwas anderes geht – wenn man will, vielleicht sogar auch um Liebe an sich (?). Ich glaube zum Beispiel, dass sie am Ende nicht wegen ihm zusammenbricht, also der Tatsache dass er sie verlässt, (die Theorie etwa, dass man Liebeskrank wird, wenn einen ein geliebter Mensch verlässt),sondern schlicht, weil er nicht mehr da ist.
    Ist alles etwas kompliziert, und nicht einfach zu formulieren. Um es mal auf eine andere Ebene zu bringen könnte man vielleicht auch sagen: er lebt in der Gegenwart und sucht die Zukunft. SIe lebt in der Vergangenheit und sucht die Gegenwart. ;-)

    Diese Vielschichtigkeit, die trotzdem aber stark konzipiert wirkt, macht für mich natürlich auch den Reichtum des Films aus. Hätte gerne gehört, was Peter Brook dazu gesagt hätte. Wenn ich Duras` Standpunkt wissen will, muss ich aber natürlich das Buch lesen. Wie ich in meiner Besprechung geschrieben habe, denke ich nicht, dass Brook hier nur eine Vorlage verfilmt, sondern diese nocheinmal reflexiv gebrochen, und selbst neu interpretiert hat. Das das dann Duras nicht unbedingt alles gepasst hat (wie du schreibst) ist daher klar. :-)
    Ich glaube das ist die große Fähigkeit von Peter Brook, die er wohl von seiner Theaterarbeit mitbringt: eine Neuinterpretation die dem Text treu bleibt, indem sie aus aus ihm die Inspiration schöpft. Sozusagen eine Anayse der Vorlage, um sie in eie vermeintlich andere Richtung zu bringen ohne sie wirklich zu verändern. Im Film tritt das dann ganz deutlich zutage: wie man etwas filmt, wie man die Dialoge, die Blicke, die Mimik und Gestik zeigt, wird entscheidender als die Interpretation durch den Schauspieler. Das ist dann die eigentliche Leistung der Regie, nicht dem Text, den Darstellern, der Szene zu dienen, sondern sie durch seine eigene Sicht neu zu gestalten. Daher vertraue ich den Worten die aus dem Mund von Belmondo und Moreau kommen, auch ihrem Ausdruck, nicht so sehr wie dem Blick der Kamera auf sie, die eben nochmal eine andere (und für mich dann die entscheidende) Geschichte erzählt.

    Natürlich ist aber zum Beispiel der Dialog immer noch sehr wichtig (nur eben nicht entscheidend). Wenn man etwa die deutsche Synchronisation des Films anhört, sind die Akzente und Bedeutungen verschoben, und man sieht dadurch tatsächlich einen etwas anderen Film. Da merkt man dann sogar wunderbar wie Synchronarbeit/Übersetzungsarbeit eine Interpretation ist, der Versuch herauszufinden, was durch die Sprache gemeint sein könnte, oder die automatische Annahme, das durch einen bestimmten Ausdruck schon etwas bestimmtes damit gemeint sein werde. Die Synchro folgt nämlich teilweise nicht so sehr dem Wortlaut als dem (oder eben einem) vermeintlichen „Sinnlaut“, dem was sie mit den Dialogen ausdrücken möchten. Es könnte sich natürlich auch um Zensur handeln, was ich aber in diesem Fall nicht vermute, da Zensur meist etwas grobschlächtiger vorgeht, und ich ihr zumindest in Deutschland zur damaligen zeit nicht soviel Reflektionsfähigkit zutraue.

  4. Silvia Szymanski 13. November 2011 um 13:29 Uhr · Antworten

    Ja, ich glaub auch, sie haben sich nicht mal geküsst. Das ist schon bitter. Sie fasst das auch als geradezu mörderisch auf. „Was die beiden ineinander projizieren“: Denkst du, Sano, dass ihre Verliebtheit Projektion ist? Seltsamerweise verstehe ich nie gut, woran man das unterscheiden kann.

    Ich muss den Film auch schon mal gesehen haben; ich erinnerte mich an die Bistrobar und an die vom Ankämpfen gegen den Wind zu Tode erschöpften Vögel. Muss schon lange her sein, ich hatte gedacht, ich hätte das vielleicht nur geträumt. Ich hatte damals nur einen sehr kleinen Schwarzweißfernseher. Das verrauschte Bild und dass man die Zimmerantenne öfter nachjustieren musste, machte sehr spürbar, dass die Filme von weit her in die Wohnung getragen wurden, wenn ich nachts von der Thekenarbeit in der ätzenden Diskothek nach Hause kam; es war wie eine Flaschenpost. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die schmerzvolle Zeit irgendwann würde romantisieren können, aber voilà ;-) Zumindest lobe ich sie jetzt dafür, dass ich da einige beeindruckende Filme gesehen habe. Sonst könnte ich gar nicht mit euch hartgesottenen Filmfans reden, und das fänd ich schade.

  5. Sano 9. November 2011 um 06:31 Uhr · Antworten

    Wusste ich doch, dass dir der Film gefallen könnte. ;-)

    Wenn ich mich richtig erinnere, dann küssen sich die beiden nicht einmal. Schon sehr interessant was die beiden ineinander projizieren.

    Wie Moreau immer wieder in diese Bar geht finde ich auch großartig gespielt und inszeniert. Ein Stück leben sozusagen, Wahrheit groß geschrieben. Dass Belmondo unglaublich gut spielen konnte sieht man auch in spätere Filmen immer wieder (habe gerade vor ein paar tagen zwei Filme aus den 70ern mit ihm gesehen), nur ist er da ja schon Bebel, bereits Legende – Alain Delon wird wegen diesem ikonischen Status auch oft unterschätzt, und gleiches gilt für Filme von Jean Gabin nach 1945. Sozusagen das jack Nicholson Syndrom, dem ab den 90ern auch nur noch vorgeworfen wurde er spiele ständig sich selbst (oder seine Klischees). ;-)

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